Mittwoch, 20. Januar 2010

Partizipation im Reformmodell Bürgergesellschaft

von Armin König

Mit dem Begriff der Bürgergesellschaft ist Ende der 1990er Jahre ein griffiges Schlagwort in die politische Diskussion eingebracht worden. Das sperrige Wort Partizipation wird anschaulich, gerechte Beteiligung der Bürger an Entscheidungen, aktive, lebendige Demokratie, Freiheit durch politische Selbstorganisation, Bildung von Sozialkapital werden als Elemente der Bürgergesellschaft geschickt kombiniert, um zunehmende Ansprüche an die Bürger elegant zu verpacken.

Die Bürgergesellschaft gilt als Reformmodell (Bogumil, Holtkamp, Schwarz; König 2009), doch wie sie aussehen soll, wird unterschiedlich definiert. Dass das Modell signifikante gesellschaftliche Bedeutung hat, belegen schon die statistischen Erhebungen: Mehr als 22 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland freiwillig in Vereinen Organisationen, Kirchen, Gewerkschaften, NGOs. Das ist ein enormes Potenzial. Freiwilliges Engagement erspart dem Staat die Entlohnung von Milliarden Stunden, die ansonsten kaum zu finan-zieren wären. Seit Beginn der Jahrtausendwende gibt es verstärkt Bestrebungen der Wirtschaft, for-ciert durch die Bertelsmann Stiftung und andere „Reforminstitutionen“, die Bürger noch stärker zu aktivieren, um den Staat in seinen Aufgaben gleichzeitig reduzieren zu können. Wären die Bürger stärker für solche freiwilligen Leistungen zu aktivieren, könnte die Wirtschaft entlastet und der Staat und die Steuerzahler von Transferleistungen befreit werden. Was zynisch klingt, wird von Wirtschaftsvertretern, der FDP und selbst von einem Philosophen wie Peter Sloterdijk heute offensiv vertreten.

Aber die wirtschaftsliberale Variante ist nicht die einzige Möglichkeit, Bürgergesellschaft zu definieren. Die Repräsentanten der christlichen Soziallehre beispielsweise vertreten ein anderes Wertesystem, eine andere Grundhaltung zur Rolle des vorsorgenden Staates und ein anderes Grundverständnis solidarischen Handelns in einer fairen Gesellschaft. Es ist ein fundamental andere Gesellschaftsentwurf. Ist Bürgergesellschaft nur ein Bertelsmann-Projekt, protegiert von deren Vordenkern wie Werner Weidenfeld, ist es eine Alternative zum paternalistischen Sozialstaat, ein „dritter Weg“ im Sinne von Anthony Giddens? Oder ist sie die moderne Art der Gesellschaftspolitik, in der die Bürger nicht Zaungäste, sondern aktiv partizipierende und entscheidende Demokraten sind?

Sozialpolitiker wie Alois Glück für ein „grundlegendes ordnungspolitisches Konzept im Sinne einer neu ausbalancierten Verantwortungsgemeinschaft von Bürger und Staat“ (85). Ein starker Staat soll Handlungsfähigkeit und Stabilität garantieren und den Ordnungsrahmen für das Gesellschaftsleben, die Wirtschaft, die Politik und für aktive Bürgerbeteiligung setzen. Das ist ein Plädoyer gegen einen „Rückzug des Staates allein auf seine rein hoheitlichen Aufgaben“ (86).

Andererseits sehen Werner Weidenfeld und Norbert Walter die Wirtschaft nicht länger im alten Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft und damit in der Verantwortung für die Bürgergesellschaft. Vor allem Walter will der Wirtschaft neue Entfaltungsmöglichkeiten geben, indem er die Unternehmen von Lasten befreit. Der Korporativismus als deutsche Form der Wirtschaftsordnung habe „in Sackgassen geführt“. (112) So seien die ökologischen, ökonomischen, sozialen und demographischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht zu meistern. Eine neue Wirtschaftsordnung mit den Elementen Wettbewerb, Leistungsorientierung und Partizipation solle neuen Schub bringen. Die „Einbeziehung möglichst vieler mit ihren Potenzialen“ (112) sei deshalb eine zentrale Aufgabe, die aber nicht von der Wirtschaft, sondern von der Gesellschaft zu leisten sei. „Die Voraussetzungen für eine solche partizipative und leistungsorientierte Gesellschaft liegen außerhalb des Ökonomischen“. (112) Angestrebt wird eine Marktwirtschaft angelsächsischer Prägung. Dass sie in Deutschland verteufelt werde, verhindere, „dass der Exportweltmeister seine Talente in den Märkten virtuoser nutzt. Statt Shareholder Value oder private Equity zu verbannen sollten wir sie weiterentwickeln“, meint Walter. (112-113)


Subsidiarität im Sinne ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit und „in guter Übereinstimmung etwa mit der Katholischen Soziallehre“ (113) soll nach Walters Ansicht delegiert werden. Vor allem die Bürger sollen aktiver werden. Walter wünscht sich „mehr kreative und risikobereite Geister“ (112), die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, aber auch „treue Partnerschaft in vielen Lebensbereichen, besonders in der Ehe, zur Begründung von Familien, die Kindern den sozialen Schutz gewähren, die Gesamtheit, Ausbildung und soziale Prägung sichern.“ (112)


Weidenfeld sieht in der Bürgergesellschaft die Chance, dass Staat und Wirtschaft durch „Bürgerbeteiligung, Selbsthilfe, Alltagssolidarität und ehrenamtliche[s] Engagement“ (50) finanziell entlastet werden. „Bürgerschaftliches Engagement soll zur Lösung zentraler gesellschaftlicher Probleme beitragen“ (50). Ziel ist ein „partizipatorischer Wohlfahrtsstaat“. (50)

Heiner Geißler setzt den Kontrapunkt: „Die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist der Gegenentwurf zur zivilen Bürgergesellschaft.“ (117) Solange Politik und Wirtschaft bereit seien, „sich mit einem so genannten Prekariat ab[zu]finden“ (115), so lange bleibe die Bürgergesellschaft eine Utopie. „Eine Bürgergesellschaft setzt voraus, dass Politik, Staatswesen und Wirtschaft auf einem ethischen Fundament beruhen, das heißt die absolute Achtung der Menschenwürde für alle gilt und alle die Pflicht haben, denen zu helfen, die in Not sind.“ (117)


Rüdiger May beschreibt Voraussetzungen und Kriterien politischer Partizipation: „Ohne Partizipation ist Demokratie eine leere, formale Hülle, die an der Lebenswirklichkeit des Volkes vorbei geht“. (199) Als Negativfaktoren beschreibt May die „mangelhafte Organisation heutiger Partizipationsmög-lichkeiten“ (200), die „mangelnden Vorbilder“ (202), „[u]nvollständiges Wissen und Desinteresse (203) und fehlende Zeit, das Beharrungsvermögen von Mandatsinhabern und ihr Platzvorteil gegen-über neuen Interessenten, die „Sondersprache der Politiker“ (210) und die schwierige Kommunikation, obwohl dies ein Schlüssel für die Teilhabe sei: „Politische Kommunikation bleibt für den potenziellen Partizipierer eine fremde Welt.“ (212)
Wenn Partizipation ein „essentielles Element des Funktionierens der Demokratie“ (212) werden solle, müsse Demokratie verändert werden. Dazu gehören das Aufbrechen verkrusteter Strukturen in Institutionen, Teilhabe „unterhalb der Schwelle einer formalen Mitgliedschaft“ (212), eine andere Personauswahl durch neue, „offene Selektionsprozesse“ (212) in der Politik, die damit Vorbildfunktionen übernehmen und „zur Partizipation animieren“ (212) könne, ein Personalaustausch (auf Zeit) der Politik mit Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft (212-213) und eine Vermittlungsoffensive, um den Bürgern das Funktionieren von Staat und Gesellschaft beizubringen. Außerdem solle politische Kommunikation „weniger phrasenhaft, (…), dafür aber konkreter“ (213) werden.

Die wichtigste Empfehlung: „Die Regelungswerke müssen einfacher, verständlicher und dem Bürger eingängiger werden (auch um den Preis geringerer Einzelfallgerechtigkeit), er muss Inhalte verstehen, wenn er partizipieren soll.“ (213)
Warnfried Dettling, der zu den Pionieren der Bürgergesellschaft gehört, verlangt ein neues Leitbild mit der ganzheitlichen Sicht lokaler Governance, in die „die Bürger stärker einbezogen werden“ (222) und in der „die soziale Kultur einer Gesellschaft (222) verändert wird. Außerdem brauche Deutschland „mehr Bürgergesellschaft, um Menschen jenseits der Erwerbsarbeit an der Gesellschaft teilhaben zu lassen und gesellschaftliche Aufgaben mit sinnvollen Tätigkeiten verbinden zu können.“ (222) Die Bürgergesellschaft müsse eine Antwort finden „auf die neue soziale Frage, die Spaltung der Gesell-schaft und die soziale Ausgrenzung vieler Menschen zu verhindern.“ (223) Hier schließt sich der Kreis zu den Sozialpolitikern.

Bürgergesellschaft wird von Olk und Klein als anspruchsvolle Querschnittsaufgabe betrachtet: „Dabei wird bürgerschaftliches Engagement nicht auf das individuelle ‚Spenden von Zeit und Geld’ reduziert, sondern als ein Komplex von zivilgesellschaftlichen Orientierungen und Handlungsweisen identifiziert, der sowohl auf der Ebene der Individuen (Verantwortungsübernahme, Mit-Tun und Mit-Entscheiden, Einbringen von Zeit und Geld etc.) als auch auf der Ebene von Organisationen (Eingehen von Partnerschaften, systematischer Einbezug zivilgesellschaftlicher Handlungslogiken in Leitbilder, Öffnung von Organisationsstrukturen und Handlungsabläufen für zivilgesellschaftliche Beiträge etc.) und nicht zuletzt in anderen Formen des Regierens (beteiligungsoffene Formen des Aushandelns von Zielen statt hierarchischer Steuerung) zum Ausdruck kommen kann“. (25-26) Möglicherweise verbirgt sich dahinter viel Wunschdenken. Empirisch lässt sich dies bisher nicht in dieser Form und in diesem Umfang bestätigen.

Erfreulich kritisch wird die „Bürgergesellschaft als Bertelsmann-Projekt“ (265) von Rudolph Bauer thematisiert. So attackiert Bauer die elitäre Sicht der Bertelsmann Stiftung als paradox (265): „Eine Organisation der Zivilgesellschaft, deren Repräsentanten die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf ihre Fahnen geschrieben haben, unterläuft die genuinen Anliegen der Bürgergesellschaft im Interesse eine elitebürgerlichen Projekts“. (265)

Damit nicht genug: „Eine gemeinnützige Organisation nutzt ihren privilegierten Zugang zu den Medien, um eine unternehmerfreundliche Wirtschafts- und Steuerpolitik zu fordern mit dem Ziel, den Staat in seinen gesellschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, was dann wiederum durch vermehrtes bürgerschaftliches Engagement ausgeglichen werden soll“. (265)

Bauer wirft Bertelsmann mehr oder weniger unverhüllt vor, unter dem Deckmantel einer nicht-staatlichen Nonprofit-Organisation privatwirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Die Stiftung fordere „weniger Staat“. Gleichzeitig bemühe sich ein Tochterunternehmen des Konzerns, an dem die Stiftung die Mehrheit besitze, „Dienstleistungsaufgaben der öffentlichen Verwaltung zu übernehmen und gewinnbringend in privatwirtschaftlicher Regie zu betreiben.“ (265) Dieses Vorgehen der Bertelsmann Stiftung berge die Gefahr, dass jene Anliegen konterkariert würden, „die normativ mit dem originären Konzept der Bürgergesellschaft verknüpft sind“. (265) Bauer nennt Namen wie Liz Mohn, Werner Weidenfeld, Gunter Thielen, Heribert Meffert und Dieter H. Vogel und sorgt damit im Sinne der Bürgergesellschaft für Transparenz im Hinblick auf Interessen, Motive, Ziele, Strategien und Verflechtungen. Es ist wichtig, dass Bürger dies wissen.

Bauer versteht seinen Beitrag nicht zuletzt als Aufforderung, so sein Fazit, „das Wirken der Bertelsmann Stiftung und der von ihr finanziell abhängigen Centren (CAP, CHE, CKM) ebenso wie die Rolle der Bertelsmann-Medien und der anderen Unternehmenszweige des Konzerns wissenschaftlich zu untersuchen und den Einfluss des komplexen „Systems Bertelsmann“ auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung kritisch zu verfolgen.“ (Bauer 2009: 288)

So richtig diese kritische Einschätzung ist, so bleibt sie doch ein Puzzlestein im großen Bild partizipativer Governance in der Bürgergesellschaft.

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