Freitag, 15. Oktober 2010

Die Gemeinde und ihre Bürger

Vorbemerkungen

1. Demokratie fängt in der Gemeinde an. Die unverzichtbare Rolle der Kommunen als Ansprechpartner der Bürgerinnen und Bürger (ff. generell als Bürger bezeichnet) und als Gewährleister der Daseinsvorsorge wird in Reden und in normativen Darstellungen zur Kommunalpolitik hervorgehoben. Dem entspricht allerdings nicht die finanzielle Ausstattung der Kommunen durch Bund und Länder. Zwar heißt es im Grundgesetz: "Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. (Art. 28 II GG), aber diese Garantie der kommunalen Selbstverwaltung wird de facto nicht (mehr) gewährleistet. Sie ist auch nur ein stumpfes Schwert, obwohl "der moderne Selbstverwaltungsgedanke zu wesentlichen Teilen im Demokratieprinzip" (Heilshorn 2007: 165) wurzelt. Noch schwächer sind allerdings die Selbstverwaltungs-Zusagen auf europäischer Ebene.

2. Fakt ist, dass die deutschen Gemeinden mehr als nur "Teil des politischen Systems" (Naßmacher / Naßmacher 2007: 19) sind. Bis heute haben sie eine Schlüsselstellung im System, weil sie die Daseinsvorsorge der Einwohner in einem umfassenden Sinn gewährleisten. Mit einem breiten Dienstleistungsangebot bieten Städte und Gemeinden alles, was das Leben für die Menschen lebenswert macht. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören Sicherheit, Versorgung mit Energie und Wasser sowie die Entsorgung, Kindererziehung und Schule, Wohnen, Verkehr und lokale Wirtschaftsförderung, soziale Sicherheit, Altenhilfe, Jugendhilfe, Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, Kulturpflege und Sport. Die Kommunen sind wichtige (und in größeren Städten auch große) Arbeitgeber. Sie investieren und stützen damit die lokale Wirtschaft, sie öffnen Perspektiven für junge Menschen - und sie sichern die Basis des Bürgerengagements, der Verbände und Initiativen. Eine lebendige Zivilgesellschaft ist ohne lebensfähige Kommunen undenkbar.

3. Durch die Kommunalverfassungen der Bundesländer haben die Bürger umfassende politische Mitwirkungsmöglichkeiten (Glaessner 2006: 507). Sie wählen die Bürgermeister und Landräte direkt. Außerdem wählen sie ihre Repräsentanten für die Orts-, Gemeinde- und Kreisräte, sie haben Initiativ-, Entscheidungs- und Informationsrechte, können Planungsprozesse mitgestalten und sind Kooperationspartner von Verwaltung und Politik. Dabei können Bürger Akteure mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und -rechten sein. Allgemein wird festgestellt, dass sich die kommunale Ebene besonders gut für Bürger-Partizipation eignet. Die Bürger kennen hier "die örtlichen Verhältnisse, sie sind in der Lage, die Tragweite von Entscheidungen einzuschätzen, zumindest eher, als bei entfernteren politischen Entscheidungen auf Landes- und Bundesebene." (Glaessner 2006: 507)

4. Die Bürger haben unterschiedliche Rollen im politischen System der Gemeinden: Sie sind Rechteinhaber, Partizipanten, Wähler, Kunden, Konsumenten, Auftraggeber, Beteiligte, Betroffene, soziologische Gruppe. DEN Bürger in generalisierter Form gibt es also gar nicht. Stattdessen existieren unterschiedliche Facetten des Bürger-Status.

5. Im repräsentativen System werden die Interessen der Bürger durch Gemeinderats-(Ortsrats-/Kreistags-)Mitglieder vertreten. Den Bürgerstatus unterscheidet sich signifikant vom Einwohnerstatus. „Bürgerin oder Bürger der Gemeinde ist jede oder jeder Deutsche im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes und jede oder jeder Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger), die oder der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat und mindestens drei Monate in der Gemeinde wohnt.“ (§ 118 Abs. 2 KSVG) Die Unionsbürgerschaft ist im Vertrag über die Europäische Union (Art. 9 EUV; Art. 20 Abs. 2 AEUV) normiert. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht (Art 20 Abs 1. AEUV). Bei mehreren Wohnsitzen gilt der Hauptwohnsitz. Einwohner ist, wer in der Gemeinde wohnt. (§ 18 Abs. 1 KSVG) „Der Bürger ist auch Einwohner, der Einwohner im rechtlichen Sinne aber kein Bürger.“ (Wohlfahrt 2003: Rn. 100)

6. Der Bürgerstatus ist Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht. “In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar.“ (Art. 28 I S. 2-3 GG) Im Teilvertrag des Lissabon-Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist das diskriminierungsfrei zu gewährende aktive und passive Wahlrecht bei Europa- und Kommunalwahlen für Unionsbürger normiert, „wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des jeweiligen Mitgliedsstaats“ (Art. 20 Abs. 2 b AEUV).

7. Die Teilnahme der Bürger an Kommunal- und Bürgermeisterwahlen (als Wahlberechtigte oder als Kandidat) ist eines der zentralen Mitwirkungsrechte auf lokaler Ebene in der repräsentativen Demokratie (vgl. Gisevius 1999: 14). Da Bürgermeister und Gemeinderat die Organe der Gemeinde sind und gemeinsam die Politik im lokalen Bereich gestalten, ist das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene eine Chance für die Bürger, die Politik mitzubestimmen. Wer als Bürgermeister oder ehrenamtliches Ratsmitglied gewählt wird, hat dabei die stärksten Teilhaber- und Gestaltungsrechte. Angesichts der zumindest auf dem Papier bestehenden kommunalen Autonomie, nach der alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln sind (Art 28 Abs. 2 GG), ist dies ein breites Betätigungsfeld. Es bietet einen weithin unterschätzten Gestaltungsspielraum. Vermutlich ist die kommunale Ebene derzeit die einzige Sphäre, in der engagierte Bürger noch gestalten und etwas bewegen können. Das betrifft hauptsächlich diejenigen, die die Chancen des passiven Wahlrechts nutzen und sich aktiv in die Gemeindepolitik einbringen.

8. Schwieriger ist die Lage für die Bürger, die nicht in politische Funktionen sind. Wer nicht selbst gewählt wurde oder sich gar nicht erst als Kandidat aufstellen ließ, muss darauf vertrauen, dass seine Repräsentanten seine Interessen im Gemeinderat wirkungsvoll vertreten. Im Zuge einer zunehmenden Politik- und Politikerverdrossenheit ist auch lokal zunehmend eine Stimmung feststellbar, wonach sich die Bürger von ihren Repräsentanten nicht mehr ausreichend vertreten fühlen. "Hören die uns überhaupt zu", ist eine der Fragen, die immer häufiger gestellt werden. "Werden unsere Interessen tatsächlich von unseren Repräsentanten vertreten?" eine andere kritische Frage.

9. Die heftigen Auseinandersetzungen um das kommunale Projekt "Stuttgart21" zeigten erstmals, dass das Funktionieren des repräsentativen Systems auch auf lokaler Ebene massiv in Frage gestellt wird. Dabei war das Projekt auf allen Ebenen demokratisch legitimiert, auch die Gerichte haben dies bestätigt. Allerdings wurde die Transparenz der Entscheidungen massiv in Frage gestellt. Schlichter Heiner Geißler sprach vom Ende der Basta-Politik. Es waren nicht die so genannten üblichen Verdächtigen, die auf die Straße gingen. Noch ist es zu früh, eine soziologische Profilanalyse der Protestierenden vorzunehmen. Allerdings gibt es auf Grund der medialen Großberichterstattung starke Indizien dafür, dass vor allem bürgerliche Best-Ager und Senioren demonstrierten, die sich im politischen System nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen.

10. "Stuttgart21" mit seinen "Wutbürgern" ist nur ein Symptom für das generelle Unbehagen der Bürger gegenüber den etablierten Playern auf der kommunalpolitischen Bühne: Verwaltung und Politik werden mit Argusaugen beobachtet, ihre Entscheidungen werden zunehmend kritisch betrachtet und kommentiert.

11. Wer das Thema "Die Gemeinde und ihre Bürger" offen diskutieren will, muss sich mit den Fragen der Einwohner ernsthaft(er) auseinander setzen. Insbesondere sind Antworten auf Fragen wie "Was tun Politiker und Verwaltung denn für die kleinen Leute?" oder "Bestimmt hier nur noch das Geld, was in unserer Stadt geschieht?" oder "Ist Politik nicht sowieso ein schmutziges Geschäft? alten wir uns da nicht besser raus?" geben.

12. Die Zeit einfacher Antworten ist in einer Zeit komplexer Politik-Verflechtungen vorbei.


Gisevius, Wolfgang (1999): Leitfaden durch die Kommunalpolitik. 6. überarb. Aufl. Bonn: Dietz.

Glaessner, Gert-Joachim (2006): Politik in Deutschland. 2. akt. Aufl. Wiesbaden: VS.

Heilshorn, Torsten (2007): Die Neufassung der kommunalwirtschaftlichen Subsidiaritätsklausel und des Gebietsbezuges kommunaler Unternehmen in Baden-Württemberg. In: VBlBW 5/2007, S: 161-166.

Wohlfahrt, Jürgen (2003): Kommunalrecht für das Saarland. 3. neubearb. Aufl.Baden-Baden: Nomos.