Mittwoch, 15. April 2009

Kontroverse Diskussion zur Bürgergesellschaft als Projekt: Rhetorische Floskel oder wegweisendes Reformprojekt?

© Armin König 2009

Gerechte Beteiligung der Bürger an Entscheidungen, aktive, lebendige Demokratie, Freiheit durch politische Selbstorganisation, Bildung von Sozialkapital – das sind hohe Ansprüche an eine „Bürgergesellschaft“, die bei den Parteien zumindest als Schlagwort an Bedeutung gewonnen hat. Doch wie sieht es in der Realität mit dem „Projekt Bürgergesellschaft“ aus? Wird es ernst genommen? Oder steckt dahinter nur eine rhetorische Floskel? Ingo Bode, Adalbert Evers und Ansgar Klein haben unter dem Titel „Bürgergesellschaft als Projekt“ eine „Bestandsaufnahme zu Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Potenziale in Deutschland“ vorgelegt. Das Thema ist vielschichtig. Es geht um Wirtschaft und Organisation der Bürgergesellschaft, Corporate Citizenship, um die Rolle der hauptamtlichen Mitarbeiter in NGOs, um Kooperationsnetze, die Erfolgsaussichten lokaler Governance-Arrangements und um Partizipation in umweltpolitischen Beteiligungsverfahren. Auch aus der Genderperspektive wird die Bürgergesellschaft untersucht – und das sehr kritisch.

„Noch immer liegen Welten zwischen Zukunftsvision und Alltagsrealität, zwischen konzeptionellen Entwürfen und sozialwissenschaftlicher Reflektion, zwischen der reformpolitischen Agenda und den Handlungsbedingungen der Initiativen und Organisationen vor Ort“. (Bode/Evers/Klein 2009: 7)

Der Befund der Wissenschaftler ist für die Politik wenig schmeichelhaft.

Allerdings haben mit Ausnahme der Linken alle Parteien die Forderung nach einer Aufwertung der Bürgergesellschaft in ihr Programm aufgenommen, wie Thomas Olk und Ansgar Klein referieren („Engagementpolitik – ein neues Politikfeld und seine Probleme“). Sie sehen „starke Indizien für die Herausbildung eines eigenständigen Politikfeldes ‚Engagementpolitik’ in Deutschland“ (30). Daran hat nach ihrer Auffassung die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ wesentlichen Anteil. Ihre Einrichtung 1999 sei ein „Meilenstein bei der Herausbildung von Engagementpolitik als Handlungsfeld“ (Olk/Klein 2009: 25) gewesen. Die Bedeutung der Kommission lasse sich nicht auf de Abschlussbericht verkürzen: „Die Vernetzung engagementpolitischer Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und die direkten Auswirkungen der Anhörungen und Debatten auf die öffentliche Meinungsbildung sind mindestens genauso relevant“. (25)

Olk/Klein sehen bürgergesellschaftliches Engagement als Reformprojekt, das mit konventionellem Denken bricht und „einen weit reichenden Umbau der Institutionen in Staat und Gesellschaft erfordert“. (25) Diese Leitbild reiche „weit über das bisherige Verständnis einer Förderung des Ehrenamts hinaus“ (25).

Bürgergesellschaft als Projekt wird als anspruchsvolle Querschnittsaufgabe betrachtet: „Dabei wird bürgerschaftliches Engagement nicht auf das individuelle ‚Spenden von Zeit und Geld’ reduziert, sondern als ein Komplex von zivilgesellschaftlichen Orientierungen und Handlungsweisen identifiziert, der sowohl auf der Ebene der Individuen (Verantwortungsübernahme, Mit-Tun und Mit-Entscheiden, Einbringen von Zeit und Geld etc.) als auch auf der Ebene von Organisationen (Eingehen von Partnerschaften, systematischer Einbezug zivilgesellschaftlicher Handlungslogiken in Leitbilder, Öffnung von Organisationsstrukturen und Handlungsabläufen für zivilgesellschaftliche Beiträge etc.) und nicht zuletzt in anderen Formen des Regierens (beteiligungsoffene Formen des Aushandelns von Zielen statt hierarchischer Steuerung) zum Ausdruck kommen kann“. (25-26) Möglicherweise verbirgt sich dahinter viel Wunschdenken. Empirisch lässt sich dies bisher nicht in dieser Form und in diesem Umfang bestätigen

Annette Zimmer sieht aus wissenschaftlicher Sicht erhebliche Defizite. „Bürgerschaftliches Engagement führt als Begriff eine Nischenexistenz und ist, abgekoppelt von der internationalen Entwicklung, vorrangig ein Begriff der alltagspolitischen Debatte in Deutschland“ (81). Sie fordert den Abschied vom „Provinzpomeranztum“ (98), mehr Kommunikation untereinander sowie eine bessere internationale Anbindung. Das klingt nicht sehr freundlich.

Erfreulich kritisch wird die „Bürgergesellschaft als Bertelsmann-Projekt“ (265 ff.) von Rudolph Bauer thematisiert. So attackiert Bauer die elitäre Sicht der Bertelsmann Stiftung als paradox (265): „Eine Organisation der Zivilgesellschaft, deren Repräsentanten die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf ihre Fahnen geschrieben haben, unterläuft die genuinen Anliegen der Bürgergesellschaft im Interesse eine elitebürgerlichen Projekts“. (265)

Damit nicht genug: „Eine gemeinnützige Organisation nutzt ihren privilegierten Zugang zu den Medien, um eine unternehmerfreundliche Wirtschafts- und Steuerpolitik zu fordern mit dem Ziel, den Staat in seinen gesellschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, was dann wiederum durch vermehrtes bürgerschaftliches Engagement ausgeglichen werden soll“. (265)

Bauer wirft Bertelsmann mehr oder weniger unverhüllt vor, unter dem Deckmantel einer nicht-staatlichen Nonprofit-Organisation privatwirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Die Stiftung fordere „weniger Staat“. Gleichzeitig bemühe sich ein Tochterunternehmen des Konzerns, an dem die Stiftung die Mehrheit besitze, „Dienstleistungsaufgaben der öffentlichen Verwaltung zu übernehmen und gewinnbringend in privatwirtschaftlicher Regie zu betreiben.“ (265) Dieses Vorgehen der Bertelsmann Stiftung berge die Gefahr, dass jene Anliegen konterkariert würden, „die normativ mit dem originären Konzept der Bürgergesellschaft verknüpft sind“. (265) Bauer nennt Namen wie Liz Mohn, Werner Weidenfeld, Gunter Thielen, Heribert Meffert und Dieter H. Vogel und sorgt damit im Sinne der Bürgergesellschaft für Transparenz im Hinblick auf Interessen, Motive, Ziele, Strategien und Verflechtungen. Es ist wichtig, dass Bürger dies wissen.

Bauer versteht seinen Beitrag nicht zuletzt als Aufforderung, so sein Fazit, „das Wirken der Bertelsmann Stiftung und der von ihr finanziell abhängigen Centren (CAP, CHE, CKM) ebenso wie die Rolle der Bertelsmann-Medien und der anderen Unternehmenszweige des Konzerns wissenschaftlich zu untersuchen und den Einfluss des komplexen „Systems Bertelsmann“ auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung kritisch zu verfolgen.“ (Bauer 2009: 288)

Fazit:
Der Sammelband „Bürgergesellschaft als Projekt“ beleuchtet das aktuelle Thema zivilgesellschaftlichen Engagements kritisch-kontrovers aus unterschiedlichen Blickwinkeln und regt durch die interdisziplinäre Sicht zu weiteren Forschungsaktivitäten an. Die Bestandsaufnahme ist anregend und kann zum Katalysator für neue zivilgesellschaftliche Aktivitäten werden. Sie trägt aber auch dazu bei, allzu hohe Erwartungen an die Bürgergesellschaft zu dämpfen.

www.arminkoenig.de
http://politbuch.wordpress.com

Kopenhagen-Nørrebro als moderne Mitmach-Stadt

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ-Net 15.4.2009) beschreibt Anja Martin unter dem Titel "Die moderne Mitmach-Stadt" die Bemühungen Kopenhagens, eine der letzten öffentlichen Freiflächen im Stadtteil Nørrebro von den Bewohnern des Quartiers mit gestalten zu lassen. Nørrebro ist "ein multikultureller Stadttteil mit 57 Nationaliäten. Jeder kann ein Lieblingsstadtmöbel aus seinem Heimatland vorschlagen. Sechzig davon werden später in das eineinhalb Kilometer lange Gelände integriert" (Martin 2009).

Nach Darstellung der Autorin und des Architekten Bjarke Ingels vom Büro BIG geht es um Integration im Multikulti-Viertel und um globale Vielfalt - also um eine Art Diversity Planning mit partizipatorischer Grundhaltung. Da das Quartier berüchtigt ist wegen einer hohen Kriminalitätsrate, Schießereien und erheblichen Integrationsproblemen, soll das Projekt Superkilen dazu beitragen im urbanen Alltag Integration zu leben. Architekt Ingels wird mit den Worten zitiert: "Man kann Menschen nicht aufhalten... Das Beste , was man tun kann, ist, belebten statt leeren Raum zur Verfügung zu stellen." (Martin 2009).

Momentan werden die Vorschläge gesammelt,2010 soll der "Superkil" (Superkeil) von Nørrebro fertig sein.

Außerdem referiert Anja Martin Beteiligungsprojekte in Hamburg, Berlin, Frankfurt und in der Schweiz.

Wenn Partizipation wirksam sein soll, so der Tenor, muss sie über die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung hinausgehen. "Doch die wichtigste Frage bleibt, wie die Beteiligung gedacht ist: Geht es um eine PR-Maßnahme, darum, Protesten die Basis zu nehmen, oder trauen sich Bürgermeister und Behörden wirklich, den Bürger entscheiden zu lassen?"

Quelle: Frankfurter Allgemeinde Zeitung vom 15.4.2009: Anja Martin: Die moderne Mitmach-Stadt.

AK

Dienstag, 14. April 2009

Politische Partizipation für Unterrepräsentierte: Jugend und Migranten

von Armin König (c) 2009

Geht man von Geißels Hinweis aus, dass bei partizipativen Arrangements vor allem die „üblichen Verdächtigen“ (Geißel 2008: 35) beteiligt sind und nicht wie erwünscht alle gesellschaftlichen und Altersgruppen, dann rückt die Frage in den Fokus, ob und unter welchen Umständen politische Beteiligung bei bisher unterrepräsentierten Gruppen gefördert werden kann.

Gaiser, Gille und de Rijke haben die Partizipation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Politik untersucht. Ihre Eingangshypothese geht davon aus, dass „Politik neben Kunst und Kultur sowie Religion zu den weniger bedeutsamen Lebensbereichen für junge Menschen in West und Ost“ (Gaiser / Gille / de Rijke 2006:214) gehört. Sie stützen sich auf die Ergebnisse der drei Wellen des DJI-Jugendsurveys 1992, 1997 und 2003. Trotz eines eher niedrigen Interesses junger Menschen an Politik kommen die Autoren zu dem Schluss, dass man insgesamt „nicht von einem Verfall des politischen Interesses oder des politischen Engagements bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen innerhalb der letzten 15 Jahre sprechen“ (Gaiser/Gille/de Rijke 2006: 231) könne. So sei die Bereitschaft zur Teilnahme an Wahlen nach wie vor sehr hoch (92 %).

Aber auch andere Formen politischer Partizipation haben für junge Menschen ihren Reiz – zumindest theoretisch. An der Spitze der Nennungen liegen die mögliche Beteiligung an Unterschriftensammlungen (80 %), an genehmigten Demonstrationen (60 %), an Mitbestimmungsgremien in Betrieb, Schule und Ausbildungsstätte (54%) sowie an Diskussionen bei öffentlichen Veranstaltungen (46 %). Es folgen die Teilnahme an gewerkschaftlichen Streiks (41 %), die Mitarbeit in Bürgerinitiativen (35 %), Mails an Politiker und das Schreiben von Leserbriefen (je 31 %). (Gaiser/Gille/de Rijke 2006: 223-224; DJI Jugendsurvey 2003).

Die tatsächlichen Aktivitätsquoten liegen allerdings deutlich niedriger. Das gilt insbesondere für die aktive Parteiarbeit, die Mitarbeit in politischen Gruppierungen und die Übernahme eines Amtes, die von je 2 % der befragten Jugendlichen wahrgenommen wurden. Den höchsten Sympathiewert bei Jugendlichen genießen Initiativen zu Frieden, Umwelt, Dritte Welt und Tierschutz, gefolgt von Stadtteil- und Nachbarschaftsinitiativen (DJI Jugendsurvey 2003). Das belegt, dass lokale Initiativen durchaus Potenzial haben, junge Menschen zu erreichen.

Zusammenfassend stellten die Autoren fest:

„Für Jugendliche sind danach nicht fest organisierte und klar strukturierte, durch zeitliche Dauer und Regelmäßigkeit gekennzeichnete Formen der Beteiligung attraktiv, sondern eher flexible, zeitlich begrenzte und im Zusammenhang mit besonderen Anlässen stehende Organisationsformen. Motivationsfördernd sind stärker die Möglichkeiten des sozialen Austauschs und der ‚Aktion’ mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen. ‚Aktionen statt Diskussion’, flexible und einfache, wenig hierarchische Strukturen und Aktionen, bei denen die Wirksamkeit des politischen Handelns in den Zielen wie aber auch im ‚Spaß’ des gemeinsamen Handelns direkt erfahrbar ist, sind erstrebenswert. Die Inhalte selber sollten mit den Themen etwas zu tun haben, die die jungen Menschen selbst interessieren und die sie auch wirklich ‚betreffen’“. (Gaiser/Gille/de Rijke 2006: 230)

Dabei kann Schule als Vermittlungsinstanz eine wichtige Rolle spielen. Ob sie die Partizipationsbereitschaft dadurch erhöhen kann, dass institutionalisierte Beteiligungsformen für Schüler erweitert werden, ist für die Autoren eine Frage, die man differenziert analysieren müsste. „Die empirischen Ergebnisse des DJI-Jugendsurvey verweisen jedenfalls darauf, dass diejenigen jungen Menschen, die sich in außercurricularen Kontexten der Schule betätigen, auch jenseits der Schule engagierter und politisch aktive sind.“ (Gaiser/Gille/de Rijke 2006: 231) Mehr Mitbestimmung für Schüler an ihren Schulen fördert auch deren Engagement für das Gemeinwesen.

Das österreichische Parlament hat die politische Partizipation Jugendlicher in den Mittelpunkt seiner Demokratiewerkstatt 2007 gestellt. Die Möglichkeiten der Teilhabe Jugendlicher sind inzwischen sehr unterschiedlich. Lender, der am Projekt beteiligt war, unterscheidet zwischen institutioneller und formalisierter Partizipation, speziellen Partizipationsprojekten insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene, ePartizipation mittels elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien und zielgruppenspezifischer Beteiligung. Dies reiche heute aber nicht mehr aus.

Lender sieht im Hinblick auf Partizipationsprojekte einen Paradigmenwechsel: „Dezidierte ‚Partizipationsprojekte’ weichen immer mehr dem Ansatz, dass Jugendliche in jedwedes Projekt, in jedwede Entscheidung miteingebunden werden sollen, die ihre Lebensgestaltung betrifft“. (Lender 2007: 8) Gerade das Web biete „vollkommen neue Formen der Selbstorganisation für Jugendliche“ (Lender 2007: 10). Es bedürfe allerdings „noch vieler Anstrengungen, Beteiligung als Standard in Österreich einzuführen“ (Lender 2007: 10). Das lohne sich aber: „Dort, wo Jugendliche gefordert und gefördert werden, zeigen sie oft ein hohes Potential, Interesse und Engagement“. (Lender 2007: 10)

Junge Menschen „verbringen einen Großteil ihrer Zeit in schulischen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen“ (Böhnisch 2008: 33), doch dort spielt sich nur ein Teil ihres gesellschaftlichen Lebens ab, der zudem besonders geschützt ist. „Schulen haben ihr eigenes Leben, aber sie sind nicht das Leben selbst“ (Lender 2007: 10), hat Aurin in Abwandlung der klassischen Seneca-Sentenz „non vitae sed scholae discimus“ festgestellt. Wer aber wünscht, dass junge Menschen nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernen, muss ihnen Partizipationsmöglichkeiten anbieten, die Sinn und Spaß machen (Moser 2008: 79). Für Böhnisch muss „die Schule die Jugendlichen als Akteure akzeptieren, die durch ihr Handeln Beteiligung oder herstellen“ (Böhnisch 2008: 38). Sie könne zur „Plattform für einen - zumindest informellen – Bürgerstatus“ werden.

Diskutiert wurde über diese Fragen im März 2007 bei einer internationalen Tagung unter dem Thema „Jugendliche gestalten ihre Zukunft in der Kommune mit“ (vgl. Ködelpeter/Nitschke 2008). Beteiligt waren Jugendforscher und Praktiker aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Brasilien. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie junge Menschen auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren und wie sie ihr Lebensumfeld selbst gestalten wollen. Vorgestellt wurden zahlreiche Projekte, bei denen junge Menschen sich einbringen können, etwa bei der Aufstellung von Bürgerhaushalten in Marzahn-Hellersdorf, in Bremen-Tenever (Quartiersbudget) und in brasilianischen Städten wie Porto Allegre oder Sao Paulo, bei der Zukunftsplanung von Augsburg, Bobingen und Weyarn, der Raumplanung („Jugend braucht Raum - Räume für Jugendliche“) in einer Hamburger Großwohnsiedlung oder bei der Qualifizierung für Partizipationsprozesse. Die Partizipation junger Menschen ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich und offenkundig auch Erfolg versprechend.

Konfliktträchtig ist das Thema „Jugend, Partizipation und Migration“(Geisen/Riegel 2008) im „Spannungsfeld von Partizipation und Ausgrenzung“ (ebda). Ausgangspunkt ist die Diskussion um alltägliche Konflikte um und mit Migranten, etwa an der Berliner Rütli-Schule.

Die Autoren stellen einer „einseitig problemzentrierten Wahrnehmung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Geisen/Riegel 2008: 8) eine differenzierte Sicht auf Chancen und Grenzen der integration und der Partizipation entgegen. Im Mittelpunkt steht die Frage, „wie Jugendliche mit Migrationshintergrund diese sozial-kulturelle Partizipation für sich subjektiv als gelingend realisieren können.“ (Geisen/Riegel 2008: 20) Dabei wird nicht verhehlt, dass diese Aufgabe erschwert wird durch Armutsrisiken, Rassismus und teilweise unprofessionelles Verhalten in der Sozialen Arbeit (Geisen/Riegel 2008: 21). Die Autoren stellen zahlreiche Defizite in der praktischen Arbeit und der theoretischen Aufarbeitung des sperrigen Themas fest. „Allerdings wird in den Beiträgen auch aufgezeigt, dass über individuelle und soziale Lernprozesse, die eine kritische Reflexion der konkreten sozialen Bedingungen beinhalten, bestehende Grenzen überwunden und neue Partizipationsmöglichkeiten erschlossen werden können“. (Geisen/Riegel 2008: 23-24)

Otten, Reich und Schöning-Kalender haben in einem Forschungsbericht die „Partizipation und Positionierung von Migrantinnen und Migranten und ihren Organisationen in Rheinland-Pfalz“ (Otten et al. 2007) analysiert. Hintergrund des Projekts sind neuere Ansätze in der Migrationsforschung, die von Deutschland als Einwanderungsland ausgehen. „Von einer aktiv gelebten Partizipation wird eine wichtige Funktion für die Gesellschaftliche Integration und für die Vermittlung zwischen den Kulturen“ (Otten et al. 2007: 1) erwartet, zumindest wird davon ausgegangen, dass sie entsprechende Potenziale birgt. Die Autoren äußern die Auffassung, „dass die selbst bestimmte und selbst organisierte Interessenvertretung von Migrantinnen und Migranten in eigenen Organisationen und Institutionen dem Anspruch der sozialen und politischen Partizipation unter Achtung und Anerkennung unterschiedlicher kultureller Lebenswelten und Wertorientierungen gerecht wird“ (Otten et al. 1). Sie verlangen „Rückenstärkung und aktive Unterstützung seitens der örtlichen Politik“ (Otten et al. 2007: 88) für Migrantenorganisationen, ein „[k]ommunales Wahlrecht als Weg in die Normalität“ (Otten et al: 2007 89) sowie eine Institutionalisierung der Partnerschaft zwischen Einheimischen und Migranten (Otten et al 2007: 88-89).

Notwendig seien Kontinuität und Nachhaltigkeit. Derzeit sei ein positives Verhältnis zu Migrantenvertretungen vor allem abhängig von Einzelpersonen, „die aufgrund langjähriger Vereinserfahrung, guter Beziehungen zur lokalen Politik und einer gewissen professionellen herangehensweise die Entwicklungen geprägt haben“ (Otten et al. 2007: 86).

Insgesamt zeichnet Otten, Reich und Schöning-Kalender ein Bild, „das in der Grundtendenz eher von pragmatischer Kooperation und gegenseitiger Wertschätzung als durch Ausgrenzung und Vorenthaltung gekennzeichnet ist.“ (ebda) Wo tatsächlich kooperiert wird, erleichtert die Zusammenarbeit das „Verständnis für die Bedürfnisse, Probleme und Möglichkeiten des Gegenübers“ (ebda). Das gilt für die Kommunen einerseits und die Migrantenorgansiationen andererseit.
Die Migrantenorganisationen seie inzwischen als Governance-Akteure in der lokalen Politik-Arena akzeptiert. Sie hätten eine Integrationsfunktion für ihre Mitglieder, bündelten Interessen, dienten als Kulturvermittler, könnten aber auch ein Vehikel sein, um sich von anderen Gruppen und Kulturgemeinschaften abzugrenzen Otten et al. 2007: 66). Diskutiert wird auch über die Chance, Sozialkapital über die Ausländerbeiräte zu generieren (Otten et al. 2007: 69).

Ein Aspekt, der direkt mit dem demographischen Wandel zusammenhängt, ist bisher kaum beachtet worden, hat aber erhebliche Bedeutung: Die Abbildung der tatsächlichen Bevölkerung im repräsentativen Wahlsystem. Dazu bemerken Otten, Reich und Schöning-Kalender: „Der demographische Wandel und die veränderten Bevölkerungsstrukturen in den Städten und Kommunen werden ohne ein verändertes Wahlrecht immer weniger die realen Verhältnisse in der Bevölkerung abbilden. Viele Parteien und Politiker haben das bereits erkannt und ahnen, dass Migrantinnen und Migranten im Falle eines kommunalen Wahlrechts rasch eine umworbene Wählergruppen darstellen würden.“ (Otten et al. 2007: 89)

Auch vor diesem Hintergrund sind Partizipationsgelegenheiten im vorpolitischen lokalen Raum im Rahmen von Governance-Arrangements von besonderem Interesse.

Literatur:

Böhnisch, Lothar (2008): Lebenslage Jugend, sozialer Wandel und Partizipation von Jugendlichen. In: Ködelpeter, Thomas / Nitschke, Ulrich (Hrsg.): Jugendliche planen und gestalten Lebenswelten: Partizipation als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel. Wiesbaden: VS-Verlag. S. 25-40.

Deutsches Jugendinstitut (DJI) (2003): Jugendsurvey 2003 (3. Welle).

Gaiser, Wolfgang / Gille, Martina / de Rijke, Johann (2006): Politische Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich.

Geißel, Brigitte (2008): Wozu Demokratisierung der Demokratie? Kriterien zur Bewertung partizipativer Arrangements. In: Vetter, Angelika (Hrsg.) (2008): Erfolgsbedingungen lokaler Bürgerbeteili-gung. Wiesbaden. VS Verlag. S. 29-48.

Gille, Martina / Sardei-Biermann, Sabine / Gaiser, Wolfgang / Rijke, Johann de (Hrsg.) (2006): Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Lebensverhältnisse, Werte und gesellschaftliche Beteiligung 12- bis 29-Jähriger. (= Ergebnisse zur 3. Welle des DJI-Jugendsurveys 2003) Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Ködelpeter, Thomas / Nitschke, Ulrich (Hrsg.)(2008): Jugendliche planen und gestalten Lebenswelten: Partizipation als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lender, Robert (2007): Vom Mitreden bis zur Selbstgestaltung. Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Österreich. In: Republik Österreich, Parlamentsdirektion (Hrsg.): Die politische Partizipation Jugendlicher und die Demokratiewerkstatt des Parlaments. Beilage zum Journal für Rechtspolitik Nr. 4/2007. Wien, S. 8-10.

Moser, Sonja (2008): „Partizipation wie wir sie sehen“: Gesellschaftliche Beteiligung aus der Sicht von Jugendlichen. In: Ködelpeter, Thomas / Nitschke, Ulrich (Hrsg.): Jugendliche planen und gestalten Lebenswelten: Partizipation als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel. Wiesbaden: VS. S. 77-86.

Otten, Matthias / Reich, Hans H. / Schöning-Kalender, Claudia (2007): Innovative Partnerschaften wirken produktiv. Partizipation von Migrantinnen und Migranten: Perspektiven für Rheinland-Pfalz. In: Treffpunkt - Zeitschrift der Landesbeauftragten für Migration und Integration in Rheinland-Pfalz 2/2007, S. 1-7.

Otten, Matthias / Reich, Hans H. / Schöning-Kalender, Claudia (2008): Partizipation und Positionie-rung von Migrantinnen und Migranten und ihren Organisationen in Rheinland-Pfalz. Forschungsbericht für die Landesbeauftragte für Migration und Integration in Rheinland-Pfalz. Mainz.