Samstag, 2. Januar 2010

Die Mittelschicht ist unter Druck - jetzt muss sie aktiv werden



ein Beitrag von Armin König

Sie war bislang die Stütze der Gesellschaft und die damit auch die Stütze der Demokratie: die Mittelschicht. Doch das Fundament bröckelt. Die Reichen (und die reichen Konzerne) entziehen sich zunehmend ihren sozialen und fiskalischen Verpflichtungen, um ein Leben in unbeschreiblichem (und ethisch nicht akzeptablem) Luxus zu führen, während die Mittelschicht blutet. Sie erlebt einen Alptraum – wie Paul Krugman schon 2002 festgestellt hat.
Marc Beise stellt nun fest, dass das amerikanische Phänomen jetzt auch in Deutschland zu beobachten ist. „die Neureichen klotzten ihre Paläste in die besten Wohnviertel von Düsseldorf oder München oder besetzten die Zugänge zum Starnberger See und anderen schönen Seen im deutschen Südosten. Derweil rutschten immer mehr Mitglieder der Mittelschicht in die Armut ab, namentlich Familien oder gar alleinerziehende Mütter. Kinder nämlich – wie widersinnig! – sind in dieser Gesellschaft immer noch die beste Gewähr dafür, dass man nichts mehr reißen kann.“ (25) Nicht nur Marc Beise betrachtet dies als Skandal. Dabei handelt es sich nicht nur um eine gefühlte Bedrohung, sondern um eine tatsächliche Krise, die auch anders wahrgenommen wird.
Udo di Fabio spricht vom „bedrängten Drittel“ (FAZ Nr. 251 v. 28.10.2006) der Dreidrittel-Gesellschaft, Torsten Hänel von der verunsicherten Mittelschicht (Hänel 2008: 19), Fabian Virchow von „Verunsicherungen in den Lebensverhältnissen“ (Virchow 2007: 216) der Mittelschicht.
Für die „Wirtschaftswoche“ (Wiwo) ist das Mittelschichtsproblem global akut, weil die „Finanzkrise weltweit Vermögen und Vorsorge zerstört“ (Wiwo 15/2009 Titel). Die Zeitschrift spricht deshalb von der „Enteignung der Mittelschicht“ (Wiwo 15/2009). Tichy warnt in diesem Zusammenhang vor der „Wut der Bürger“ (Tichy 2009: 5): „Denn weltweit geht unter, was die Mittelklasse angespart hat: Das Eigenheim verfällt im Wert ebenso wie die Aktien“ (Tichy 2009: 5).
Marc Beise kritisiert die verfehlten Prioritäten der deutschen Politik: „Die Mittelschicht wäre prädestiniert, den Wohlstand für alle zu schaffen, aber sie ist ‚noch’ nicht dran in der politischen Prioritätenliste. Erst einmal die Schwächeren in der Gesellschaft, dann vielleicht wieder die Konzerne, weil sie guten Einfluss haben und Jobs versprechen, und dann anschließend, ‚später’, kommt die Mittelschicht dran. Später – wenn das nicht heißt: nie.“ (190)
Also empfiehlt Beise Hilfe zur Selbsthilfe. Er verlangt von der Mittelschicht, nicht auf die Politik zu warten, sondern selbst das Heft in die Hand zu nehmen und eigenverantwortlich zu handeln – „zu unserem eigenen Wohle und zur Stärkung der Marktwirtschaft“. (192)
Dem „schleichende[n] Gift der Selbstaufgabe“ (192) setzt er aktives handeln gegenüber: Wer, wie die Mittelschicht, „den Anspruch hat, die Dinge besser u wissen oder zu können, hat in einem Staat, der die Schutzgemeinschaft der Gesamtheit der Individuen ist, nicht das recht sich auszuklingen“. (192)
Informieren, motivieren, aktivieren – und „Freiheit riskieren“ (196), das sind die wichtigsten Anregungen, die Beise gibt. Außerdem empfiehlt er, Dinge zu unterlassen, die die Solidarität der Bürger untergraben und hin und wieder im Interesse des Ganzen auf einen kleinen Vorteil zu verzichten. Beise bezieht sich ausdrücklich auf Paul Kirchhof und seine Empfehlung, die Barrieren des Steuerrechts hinter und zu lassen und einen Neubeginn zu wagen. Das sei nicht nur eine Aufforderung an das Parlament, „sondern auch eine Aufforderung an uns, die Barrieren hinter uns zu lassen – selbst wenn sie im einen oder anderen Fall uns begünstigt haben. Das deutsche Steuerchaos, wie übrigens auch ein uferloses Arbeitsrecht und ein zersplittertes nachbarschaftsrecht, sie alle speisen sich aus den zahllosen Prozessen, die Bürger oft nur um eines kleinen oder gar kleinsten möglichen Vorteils willen anstrengen. Müssen wir immer sagen: ‚Das ist mein Recht’? Wann sagen wir wieder: ‚Das ist meine Pflicht?’“ (197)
Damit schließt sich wieder der Kreis zu Kirchhof. Eine solche Haltung sei nur möglich, so der derzeit brillanteste deutsche Staats- und Steuerrechtler, wenn „das Maß der Gerechtigkeit“ wieder gewahrt werde. Das bedeutet aber auch, dass sich die Reichen und die Konzerne ihren Verpflichtungen nicht länger entziehen dürfen.
Beise singt das Lob der Leistungsgesellschaft, weil nur so Wohlstand möglich ist, er plädiert für die „bestmögliche Schulbildung“ (201), er fordert eine Versöhnung von Beruf und Familie, plädiert für Mobilität und Flexibilität und ein Umschalten auf vernetztes Denken.
Den entscheidenden Punkt setzt Beise aber, wenn er von der Mittelschicht verlangt, sich nicht arrogant dem politischen Betrieb zu entziehen, sondern mitzumischen:
„Auf die Politiker zu schimpfen ist einfach. Die Inkompetenz der politischen Klasse zu geißeln ist profan. Ja, es gibt momentan nur wenig wirtschaftlichen Sachverstand in den Parlamenten. Aber es gibt eben auch kaum noch politisches Engagement. Gerade die Vertreter der Mittelschicht, die so sehr eine Lobby im Parlament brauchten, verweigern sich der politischen Verantwortung. Nicht selten gibt es dafür gute Gründe, die unbenommen sein müssen. Häufig aber speist sich die parteipolitische Enthaltsamkeit aus einer arroganten Attitüde: Das habe ich nicht nötig.“ (206-207)
Dem widerspricht der Süddeutsche-Zeitung-Redakteur vehement. „Doch, wir haben es nötig, wenn sich in diesem Land etwas zum Besseren wenden soll. Wenn nicht mehr wirtschaftlicher Sachverstand in die Gesetzgebungsorgane zurückkehrt, von der kommunalen über die Landes- bis zu Bundesebene, dann wird sich an der Situation … nichts ändern.“ (207)
Es muss sich aber etwas ändern. „Wir müssen es schaffen, in den Köpfen der Politiker wieder einen Sinn für die herausragende Bedeutung der Mittelschicht zu verankern.“ (208) Der Grundstein ist gelegt. Mehr aber noch nicht.

Literatur
Marc Beise (2009): Die Ausplünderung der Mittelschicht : Alternativen zur aktuellen Politik. München: DVA.
Fabio, Udo di (2006): Das bedrängte Drittel. In: FAZ Nr. 251 v. 28.10.2006, S. 8.
Faigle, Philip (2008): Die Angst geht um. Zeit online 5.3.2008. http://www.zeit.de/online/2008/10/mittelschicht
Grabka, Markus M. / Frick, Joachim R. (2007): Vermögen in Deutschland wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen. DIW-Wochenbericht, 74, Nr. 45/2007, 665-672
Grabka, Markus M. / Frick, Joachim R. (2008): Schrumpfende Mittelschicht in Deutschland – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen? DIW-Wochenbericht, 75, Nr. 10/2008, 101-108
Hänel, Torsten (2008): Im Bann der Depression? Von der Weltwirtschaftskrise zur Globalisierungskrise. München: Grin.
König, Armin (2010): Die Mittelschicht ist unter Druck: URL: http://politbuch.wordpress.com/2010/01/02/mittelschicht/
Tichy, Roland (2009): Die Wut der Bürger. In: Wirtschaftswoche Nr. 15 v. 6.4.2009, S.


(c) 2010 Armin König


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